Julie Aichele

Am 27. Dezember des Jahres 1887 erblickt Julie Aichele als jüngste Tochter des Präzeptors Karl Julius Theodor Aichele und der Handarbeitslehrerin Katharina Marie, geb. Haag in der kleinen Stadt Nürtingen nahe Stuttgart das Licht der Welt. Ihre Kindheit und Jugend verbringt Julie Aichele zusammen mit ihren beiden älteren Schwestern Katharina und Luise sowie ihrem jüngeren Bruder Karl-Wilhelm in Stuttgart-Zuffenhausen, wohin die Familie bereits ein Jahr nach ihrer Geburt aufgrund einer neuen Anstellung des Vaters umsiedelt.

Außer dem Hinweis, dass Julie Aichele nach ihrer Schulzeit wohl einige Zeit als Kinderfräulein tätig ist, gibt es keine näheren Angaben hinsichtlich einer berufsbildenden Tätigkeit. Vermutet wird jedoch, dass sie zugunsten ihrer Geschwister auf eine eigene Ausbildung vorerst verzichtet. Stattdessen übernimmt sie die Versorgung und Pflege ihrer schwer kranken Mutter.

Geprägt durch seelische Erkrankungen innerhalb ihrer Familie und ihres persönliches Umfelds, befasst sich Julie Aichele bereits in frühem Alter mit deren Entstehungsursachen und Behandlungsmethoden.

Im Alter von 21 Jahren beschließt sie deshalb einen Hof auf der schwäbischen Alb zu kaufen, um dort mit „nervösen“ jungen Menschen zusammen zu leben und Landwirtschaft zu betreiben. Aufgrund der nicht zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel scheitert ihr Plan.

Im Jahre 1916 siedelt Familie Aichele nach Beuren bei Nürtingen um und lebt dort vorläufig im Haus der befreundeten Familie des Kaufmanns Knecht. In den Folgejahren verschlechtert sich der Gesundheitszustand der Mutter zusehends und Julie Aichele kümmert sich Tag und Nacht um die schwer kranke Frau, die schließlich im Jahre 1919 verstirbt.

Durch die lange Zeit der Pflege fällt Julie Aichele in einen schweren Erschöpfungszustand und gerät selbst in tiefe seelische Not. Dadurch kommt sie in Kontakt mit ihrem späteren Lehranalytiker – dem ersten Schüler von C.G. Jung in Deutschland – Dr. Wolfgang Stockmayer, der großen Einfluss auf ihr Schicksal und ihren weiteren Lebensweg hat.

Durch Stockmayer findet sie auch den Zugang zur Jungschen Psychologie und beginnt eine psychotherapeutische Ausbildung. Diese wird damals noch nicht in Lehrinstituten vermittelt, sondern besteht hauptsächlich aus einer Lehranalyse, der Diskussion mit Fachkollegen und dem Studium entsprechender Literatur.

Ihre ersten praktischen Schritte wagt sie bereits im Hause der befreundeten Familie des Kaufmanns Knecht. Dies stellt für sie jedoch keine zufriedenstellende Lösung auf Dauer dar, so dass der Bau einer eigenen Einrichtung bereits wieder in ihren Gedanken schlummert.

Im Jahre 1922 wird dieser Traum Wirklichkeit und Julie Aichele errichtet ihr eigenes Kinderheim. Sie arbeitet dort viele Jahre als Behandelnde Psychologin, bietet überdies ambulante Sprechstunden an und engagiert sich vor allem im Bereich der Elternarbeit. Sie verfasst Artikel über Kindererziehung in Zeitschriften und es finden Tagungen für Psychologen und Sozialarbeiter in ihrem Hause statt.

Im Jahre 1942 erkrankt Julie Aichele unheilbar an Krebs und verstirbt schließlich am 29. April 1946 in ihrem Kinderheim.


Hausbau & Alltag

Der Bau des Hauses im Jahre 1922 fällt in die schwerste Inflationszeit, die Deutschland je heimgesucht hat und Julie Aichele ist durch die Aufregung und die Mühen dieser Zeit sehr erschöpft.

So liegt von Beginn an eine große Schuldenlast auf dem Haus und immer wieder steht die Frage im Raum, ob die Arbeit weitergeführt werden kann. Doch Julie Aicheles Sorgengeist kann selbst in dieser schweren Zeit nicht getrübt werden und so hält sie auch die bestehende finanzielle Notlage nicht davon ab, auch außenstehenden Personen und vor allem Kriegsflüchtlingen in ihrem Haus Unterschlupf zu gewähren. „Und immer wieder hat sich ein Ausweg gezeigt, ist uns von irgendeiner Seite geholfen worden“ (Julie Aichele).

Ihren Alltag verbrachten die jungen Menschen überwiegend in freier Natur. So wurde im naturbelassenen Garten gespielt und getobt, im nahe gelegenen Steinbruch nach Fossilien gesucht, mit dem Leiterwagen spaziert und an den Wochenenden Ausflüge unternommen. Die älteren Jugendlichen verbrachten viel Zeit auf dem Sportplatz oder halfen den Bauern im Dorf bei der Landwirtschaft oder der Weinlese.

Darüber hinaus wurde höchsten Wert auf kreative Tätigkeiten gelegt und mit den unterschiedlichsten Materialien gearbeitet. So stellten die Kinder Faltschnitte her, bauten Baumhäuser, sägten Figuren aus Holz aus, flochten Körbe, modellierten mit Knet- und Wachsmasse und zeichneten. Hierbei sollte ein jedes „die Dinge so wiedergeben, wie es sie sah und empfand. Erschien dabei eine Wiese blau und der Himmel vielleicht grün, so wurde auch das gut geheißen“ (Elisabeth Wießner).

Auch das gemeinsame Musizieren und zahlreiche Theateraufführungen prägten in besonderer Weise das Leben der jungen Menschen im Haus Aichele.


Pädagogisch-therapeutisches Konzept

Trotz ihrer vorzüglichen theoretischen und praktischen Erkenntnisse hat Julie Aichele nie eine eigene Schule gegründet und bleibt auch innerhalb wissenschaftlicher Diskurse weitestgehend unbekannt. Ihr pädagogisch-therapeutischer Ansatz der
„Therapie auf der Treppe“ bietet jedoch – gerade in der heutigen Zeit – äußerst wertvolle Anregungen für die psychotherapeutische Arbeit mit jungen Menschen. Im Gegensatz zu ihren Fachkollegen, die Therapien innerhalb klassischer Settings praktizierten, hat Julie Aichele Elemente aus der Jungschen Psychologie in den pädagogischen Alltag direkt eingeflochten, so dass therapeutische Sequenzen nicht ortsgebunden, sondern während des Essens, beim Zubettgehen oder eben auf der Treppe stattfinden konnten.

Der Vorteil liegt klar auf der Hand: Ein therapeutisches Setting muss nicht erst künstlich erzeugt werden, sondern ergibt sich zufällig in alltäglichen Situationen; diese Schlüsselmomente können sogleich aufgegriffen sowie vor Ort reflektiert und bearbeitet werden. Das therapeutische Setting, welches hier gleichzeitig den Lebensort der Kinder darstellt, weitet sich somit auf ein spezielles therapeutisches Milieu aus, in welchem Therapie und Pädagogik im Alltag miteinander verschmelzen.